Wenn das Zuhause zur Müllkippe wird: Die versteckten Verhaltensweisen des Diogenes-Syndroms
Eine Wohnung, in der man kaum noch den Boden sehen kann. Zeitungsstapel türmen sich meterhoch, leere Verpackungen verstopfen jeden Gang, und in der Ecke steht seit Monaten abgelaufenes Essen. Der Geruch ist überwältigend. Und die Person, die hier wohnt? Sie sieht das Problem einfach nicht. Für sie ist alles völlig normal. Willkommen in der verstörenden Realität des Diogenes-Syndroms – einer psychologischen Konstellation, die weit über „ein bisschen unordentlich sein“ hinausgeht.
Das Diogenes-Syndrom beschreibt ein extremes Muster aus massiver Selbstvernachlässigung, pathologischem Horten und sozialem Rückzug. Aber hier ist der Knackpunkt: Die Betroffenen selbst erkennen meist nicht, dass etwas nicht stimmt. Medizinische Fachportale definieren das Syndrom als Kombination aus Wohnungsverwahrlosung, unkontrolliertem Sammeln wertloser Gegenstände und vollständiger Isolation von der Außenwelt. Was es so tückisch macht? Diese Menschen lehnen Hilfe rigoros ab, weil sie überzeugt sind, dass alles in Ordnung ist.
Der Name stammt vom antiken griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, der bewusst in extremer Einfachheit lebte. Aber hier hört die Ähnlichkeit auf: Menschen mit diesem Syndrom wählen diesen Lebensstil nicht bewusst. Sie rutschen hinein, oft nach traumatischen Ereignissen oder als Folge anderer psychischer Störungen. Und genau hier wird es kompliziert.
Die drei Kernverhaltensweisen, die niemand sehen will
Das Diogenes-Syndrom zeigt sich in drei markanten Verhaltensmustern, die zusammen ein Bild ergeben, das Angehörige oft hilflos zurücklässt. Schauen wir uns an, was wirklich passiert, wenn jemand in diesen Zustand abrutscht.
Pathologisches Sammeln ohne erkennbare Logik
Menschen mit Diogenes-Syndrom horten Gegenstände – aber nicht wie Sammler, die ihre Briefmarken ordentlich in Alben kleben. Sie bewahren buchstäblich alles auf: kaputte Elektrogeräte, leere Joghurtbecher, alte Zeitungen von vor zehn Jahren, verdorbene Lebensmittel, Verpackungsmaterial. Die Wohnung verwandelt sich in eine Müllkippe, Gehwege verschwinden unter Bergen von Zeug, und irgendwann kann man nicht mehr erkennen, wo das Bett aufhört und der Müllhaufen anfängt.
Medizinische Übersichtsartikel aus dem Thieme-Verlag beschreiben dieses Verhalten als fundamentale Unfähigkeit, Gegenstände wegzuwerfen. Anders als bei der klassischen Sammelstörung, bei der Menschen eine emotionale Bindung zu ihren Sachen haben und denken „Das könnte ich noch brauchen“, fehlt beim Diogenes-Syndrom oft selbst diese Rechtfertigung. Es ist eher so, als hätte das Gehirn einfach aufgehört, die Funktion „Entscheiden und Organisieren“ auszuführen. Die exekutiven Funktionen – also die Bereiche im Gehirn, die uns helfen zu planen, Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen – sind gestört oder komplett überfordert.
Extreme Vernachlässigung von Körper und Wohnraum
Hier wird es richtig ernst. Betroffene waschen sich wochen- oder sogar monatelang nicht. Sie wechseln ihre Kleidung nicht, putzen sich nicht die Zähne, und die Wohnung wird zu einem gesundheitlichen Notfall. Müll häuft sich an, Schimmel wuchert an den Wänden, manchmal werden sogar menschliche Ausscheidungen nicht mehr ordnungsgemäß entsorgt. Arzttermine werden ignoriert, Medikamente nicht eingenommen, chronische Krankheiten nicht behandelt.
Das ist keine Bequemlichkeit. Fachärztliche Artikel in der Medical Tribune identifizieren vier Hauptgrunderkrankungen, die bei Menschen mit Vermüllungssyndrom am häufigsten zugrunde liegen: Suchterkrankungen, Psychosen, schwere Depressionen und Demenz. Bei Depression ist der Antrieb so niedrig, dass selbst Duschen wie eine unbezwingbare Aufgabe erscheint. Bei Demenz vergessen Menschen, dass sie sich waschen müssen, oder sie können die komplexen Schritte nicht mehr planen. Bei Psychosen ist die Realitätswahrnehmung so verzerrt, dass die Person nicht mehr erkennt, was „normal“ ist.
Die unsichtbare Mauer: Totaler sozialer Rückzug
Menschen mit Diogenes-Syndrom ziehen sich massiv aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Sie lassen niemanden mehr in die Wohnung, erfinden Ausreden für abgesagte Treffen, reagieren nicht mehr auf Anrufe. Oftmals geht diesem Rückzug ein schwerer Schicksalsschlag voraus: der Tod des Ehepartners, der Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheitsdiagnose, ein Umzug nach jahrzehntelangem Leben am selben Ort.
Klinische Berichte zeigen ein paradoxes Muster: Einerseits schämen sich Betroffene für ihren Zustand, andererseits fehlt ihnen die Einsicht, dass dieser Zustand problematisch ist. Das Gehirn sendet widersprüchliche Signale. Die einfachste Lösung wird dann: Tür zu, Welt draußen lassen. Niemand kann mich beurteilen, wenn niemand mich sieht. Aber genau diese Isolation verstärkt das Problem, weil soziale Korrektive wegfallen und die zugrunde liegende Depression oder Demenz unbehandelt bleibt.
Wer ist wirklich betroffen? Das überraschende Profil
Hier kommt etwas, das viele überrascht: Das Diogenes-Syndrom trifft nicht nur „die üblichen Verdächtigen“. Oft sind es Menschen, die vorher ein völlig geordnetes, manchmal sogar überdurchschnittlich erfolgreiches Leben geführt haben. Wir sprechen von pensionierten Lehrern, Ingenieuren, Geschäftsleuten – Personen, die jahrzehntelang funktioniert haben und plötzlich in dieses Muster rutschen.
Medizinische Fachportale berichten, dass das Syndrom typischerweise bei Menschen über sechzig Jahren auftritt, wobei Männer und Frauen etwa gleich häufig betroffen sind. Aber auch jüngere Menschen können diese Verhaltensweisen entwickeln, besonders wenn neurologische Erkrankungen, schwere Depressionen oder traumatische Ereignisse eine Rolle spielen.
Was macht den Unterschied zwischen jemandem, der nach einem Verlust trauert und sich ein paar Wochen zurückzieht, und jemandem, der ins Diogenes-Syndrom abrutscht? Die Antwort liegt meist in einer Kombination aus mehreren Faktoren: eine vorbestehende oder neu auftretende psychische oder neurologische Störung, fehlende soziale Unterstützung, ein besonders einschneidendes Verlustereignis und eine Persönlichkeitsstruktur, die zu Rückzug und Vermeidung neigt.
Die versteckte Mechanik: Warum das Gehirn den Notausgang nimmt
Um zu verstehen, was bei Menschen mit Diogenes-Syndrom passiert, müssen wir einen Blick auf die Hirnregionen werfen, die für unser alltägliches Funktionieren entscheidend sind: den präfrontalen Kortex und die sogenannten exekutiven Funktionen. Diese Bereiche sind dafür zuständig, dass wir planen können, Prioritäten setzen, Entscheidungen treffen und Impulse kontrollieren.
Bei Demenz, nach Schlaganfällen, bei schweren Depressionen oder auch bei bestimmten anderen neurologischen Störungen können diese Funktionen beeinträchtigt sein. Forschung zu exekutiven Dysfunktionen zeigt, dass Probleme mit Planung, Organisation und Impulskontrolle zentral für die Entstehung von Verwahrlosungsmustern sind. Das Ergebnis? Die Person kann nicht mehr strukturiert aufräumen, weil der kognitive Aufwand zu hoch ist. Jede einzelne Entscheidung – „Behalte ich diese alte Zeitung oder werfe ich sie weg?“ – kostet enorme mentale Energie.
Die kurzfristige Lösung: einfach nichts tun. Und genau diese Nicht-Handlung wird unbewusst verstärkt, weil sie kurzfristig Stress reduziert. Aus lerntheoretischer Sicht ist das ein klassischer Fall von negativer Verstärkung: Das Vermeiden der unangenehmen Aufgabe verringert das unangenehme Gefühl und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten in Zukunft wiederholt wird. Ein Teufelskreis beginnt.
Hinzu kommt oft eine emotionale Komponente. Klinische Berichte beschreiben, dass nach dem Tod eines geliebten Menschen oder einem anderen massiven Verlust Objekte eine Ersatzfunktion übernehmen können. Sie füllen die innere Leere, schaffen ein Gefühl von Sicherheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Das ist keine bewusste Strategie, sondern eine Art psychischer Überlebensmechanismus, der langfristig mehr schadet als hilft.
Der sich selbst verstärkende Kreislauf, aus dem keiner rauskommt
Das Diogenes-Syndrom ist besonders heimtückisch, weil es eine selbstverstärkende Dynamik entwickelt. Je mehr Müll sich in der Wohnung ansammelt, desto überwältigender wird die Aufgabe aufzuräumen. Die Person sieht das Chaos, fühlt sich gelähmt und entscheidet sich für: nichts tun. Je mehr sie sich zurückzieht, desto weniger Menschen gibt es, die sagen „Hey, vielleicht sollten wir das mal angehen“. Je länger die Hygiene vernachlässigt wird, desto „normaler“ fühlt sich dieser Zustand an.
Gleichzeitig wächst die Scham – auch wenn sie nicht offen gezeigt wird. Diese Scham verhindert, dass Betroffene Hilfe suchen. Wer würde schon gerne zugeben, dass man seit Monaten nicht geduscht hat oder dass die Küche unter einer Schicht aus verdorbenem Essen begraben ist? Also bleibt die Tür verschlossen, Besuche werden mit Ausreden abgesagt, Anrufe landen auf der Mailbox.
Verhaltenstherapeutische Forschung zeigt, dass solche Vermeidungskreisläufe extrem stabil sind. Was kurzfristig Erleichterung bringt – nicht aufräumen müssen, niemanden sehen müssen, sich nicht mit der eigenen Situation konfrontieren müssen – wird durch genau diese Erleichterung verstärkt. Selbst wenn die langfristigen Konsequenzen katastrophal sind: Gesundheitsrisiken, soziale Isolation, rechtliche Probleme durch Beschwerden der Nachbarn.
Die realen Gefahren: Warum das mehr ist als nur „unordentlich“
Schauen wir uns die harten Fakten an: Das Diogenes-Syndrom ist nicht nur ein psychologisches Problem, sondern eine ernsthafte Bedrohung für die körperliche Gesundheit. In vermüllten Wohnungen sammeln sich Bakterien, Schimmel breitet sich aus, Ungeziefer wie Ratten und Kakerlaken finden ein Paradies. Die Brandgefahr steigt dramatisch durch überladene Steckdosen und brennbare Materialien, die überall herumliegen.
Verdorbene Lebensmittel können zu schweren Vergiftungen führen. Chronische Krankheiten wie Diabetes geraten außer Kontrolle, weil Medikamente nicht eingenommen werden. Wunden infizieren sich, weil sie nicht versorgt werden. Mangelernährung ist häufig, entweder weil keine frischen Lebensmittel mehr im Haus sind oder weil die Küche unter dem Müll nicht mehr zugänglich ist.
Forschung zu älteren Menschen in schwerer häuslicher Verwahrlosung zeigt deutlich erhöhte Raten von Krankenhauseinweisungen und Sterblichkeit im Vergleich zu gleichaltrigen Menschen ohne diese Probleme. In extremen Fällen werden Betroffene tot in ihren Wohnungen gefunden – nicht selten erst Wochen nach ihrem Tod entdeckt, weil niemand mehr nach ihnen geschaut hat.
Nicht alle Messies sind gleich: Der entscheidende Unterschied
Ein wichtiger Punkt, den viele nicht verstehen: Das Diogenes-Syndrom ist nicht dasselbe wie die pathologische Sammelstörung. Beide Störungen beinhalten zwar Horten, aber die Mechanismen und Begleitumstände sind unterschiedlich. Der wichtige Unterschied zur Hoarding Disorder liegt in den Motivationen und Begleitsymptomen.
Bei der klassischen Sammelstörung gibt es eine starke emotionale Bindung zu den gesammelten Objekten. Betroffene haben ein Wertesystem entwickelt: „Das könnte ich noch brauchen“, „Das hat sentimentalen Wert“, „Wegwerfen wäre Verschwendung“. Sie können oft beschreiben, warum sie bestimmte Dinge aufheben. Die Wohnung ist zwar vollgestellt, aber die Person selbst kann durchaus gepflegt sein und soziale Kontakte pflegen.
Beim Diogenes-Syndrom fehlt häufig selbst diese Logik. Die Gegenstände werden nicht aktiv gesammelt, weil sie wertvoll erscheinen, sondern einfach deshalb, weil die kognitive und emotionale Kapazität fehlt, sie zu entsorgen. Die Selbstvernachlässigung ist viel ausgeprägter. Außerdem stehen beim Diogenes-Syndrom fast immer andere psychiatrische oder neurologische Grunderkrankungen im Vordergrund – Demenz, schwere Depression, Psychosen oder Suchterkrankungen. Die Sammelstörung kann eigenständig auftreten, auch wenn sie oft mit Angststörungen kombiniert ist.
Frühe Warnsignale: Wann Angehörige hellhörig werden sollten
Wenn du jemanden kennst, bei dem du dir Sorgen machst, gibt es bestimmte Verhaltensänderungen, auf die du achten solltest. Je früher du eingreifst, desto besser die Chancen, dass sich die Situation nicht zum Vollbild entwickelt.
- Die Person lässt plötzlich niemanden mehr in die Wohnung und erfindet immer neue Ausreden, warum Besuche gerade nicht passen
- Zunehmende Unordnung und Ansammlung von Gegenständen, die früher nicht typisch für diese Person war
- Vernachlässigung der Körperpflege: ungepflegtes Aussehen, unangenehmer Geruch, tagelang dieselbe verschmutzte Kleidung
- Massiver Rückzug aus sozialen Kontakten, abgesagte Termine, keine Reaktionen mehr auf Nachrichten oder Anrufe
- Verpasste Arzttermine, nicht eingelöste Rezepte, sichtbare Anzeichen für unbehandelte gesundheitliche Probleme
Was kannst du realistisch tun? Hilfsansätze, die funktionieren können
Hier kommt die frustrierende Wahrheit: Das Diogenes-Syndrom ist extrem schwer zu behandeln. Die mangelnde Krankheitseinsicht bedeutet, dass Betroffene meist keine Hilfe wollen. Fachärztliche Artikel betonen, dass Ablehnung von Hilfe das Haupthindernis in der Behandlung ist. Zwangsmaßnahmen wie behördlich angeordnete Wohnungsräumungen sind rechtlich nur in extremen Fällen möglich und ohne therapeutische Begleitung selten nachhaltig – die Wohnung füllt sich oft schnell wieder.
Trotzdem gibt es Ansätze, die helfen können. Der niedrigschwellige Zugang funktioniert am besten: Versuche nicht, mit der Tür ins Haus zu fallen und zu sagen „Deine Wohnung ist eine Katastrophe, du brauchst dringend Therapie!“ Biete stattdessen konkrete, kleine Hilfe an: „Ich könnte beim Einkaufen helfen“, „Sollen wir gemeinsam den Termin beim Arzt vereinbaren?“, „Ich bringe dir etwas Frisches zu essen vorbei“. Manchmal öffnet praktische Unterstützung die Tür zu tiefergehenden Gesprächen.
Die Einbeziehung des Hausarztes ist oft ein Schlüssel. Der Hausarzt hat meist einen besonderen Vertrauensstatus und kann die zugrunde liegenden medizinischen und psychiatrischen Probleme diagnostizieren. Depression, beginnende Demenz oder andere Erkrankungen können behandelt werden – und damit verbessert sich manchmal auch die Selbstfürsorge. Medizinische Berichte zeigen, dass hausärztliche Interventionen bei früher Erkennung deutlich erfolgreicher sind.
Es gibt mittlerweile spezialisierte Beratungsstellen und Hilfsorganisationen für Menschen mit Vermüllungssyndrom. Diese Teams kennen die besonderen Herausforderungen und arbeiten oft mit einem Netzwerk aus Psychotherapie, Sozialarbeit und praktischer Entrümpelungshilfe. Sie wissen, wie man mit der Abwehr und fehlenden Einsicht umgeht.
Wenn die Person bereit ist, sich zu öffnen, kann kognitive Verhaltenstherapie helfen. Fachpublikationen zum Thema beschreiben verhaltenstherapeutische Ansätze als zentrale Behandlungsmethode. Dabei geht es darum, kleine, konkrete Schritte zu gehen: erst ein Regal aufräumen, dann eine Ecke, dann einen Raum. Gleichzeitig werden die zugrunde liegenden Denkmuster und Emotionen bearbeitet. Das ist ein langer, mühsamer Prozess, aber er kann funktionieren – wenn die Motivation da ist.
Eine Sache musst du aber akzeptieren: Du kannst niemanden gegen seinen Willen retten. Wenn die Person rigoros ablehnt, musst du manchmal einfach beobachten und für Notfälle bereitstehen. Das ist emotional unglaublich schwer, aber wichtig für deine eigene psychische Gesundheit. Du bist nicht verantwortlich für Entscheidungen, die ein erwachsener Mensch gegen jede Vernunft trifft.
Die unsichtbare Barriere: Warum Scham alles blockiert
Eines der größten Hindernisse bei der Behandlung ist die Scham. Unsere Gesellschaft bewertet Sauberkeit, Ordnung und Selbstdisziplin als moralische Werte. Wer in Müll lebt, wird schnell als „asozial“ oder „faul“ abgestempelt. Diese Stigmatisierung verstärkt die Isolation und macht es noch schwerer, Hilfe zu suchen.
Interessanterweise zeigen Betroffene nach außen oft wenig Scham – sie verleugnen das Problem oder reagieren aggressiv auf Kritik. Aber klinische Berichte deuten darauf hin, dass diese Abwehr häufig ein Schutzmechanismus ist. Tief drinnen wissen viele, dass etwas nicht stimmt, aber das Eingeständnis würde das ohnehin fragile Selbstwertgefühl vollends zerstören. Also wird die Fassade aufrechterhalten: „Alles in Ordnung, geht dich nichts an.“
Als Angehöriger ist es wichtig, diese Dynamik zu verstehen und nicht mit Vorwürfen oder offensichtlichem Ekel zu reagieren. So verständlich diese Reaktionen sind – sie verschlimmern die Situation nur. Mitgefühl ohne Beschönigung ist der schmale Grat, auf dem man sich bewegen muss. Du kannst sagen: „Ich mache mir Sorgen um dich, weil ich dich liebe“, ohne zu sagen: „Deine Wohnung ist ekelhaft und du bist eine Schande.“
Die psychologische Erklärung: Was wirklich im Kopf passiert
Psychologische Prinzipien helfen uns zu verstehen, warum das Diogenes-Syndrom so hartnäckig ist. Erstens gibt es die Störungen der exekutiven Funktionen – die Fähigkeit zu planen, zu entscheiden und zu organisieren ist beeinträchtigt. Bei Demenz, ADHS, Frontalhirnschädigungen oder schweren Depressionen können diese Bereiche so gestört sein, dass selbst einfache Aufgaben wie Aufräumen oder Duschen zu komplexen, unüberwindbaren Herausforderungen werden.
Zweitens gibt es die emotionale Dysregulation. Nach schweren Verlusten oder bei chronischer Depression können Gegenstände eine symbolische Funktion übernehmen. Sie ersetzen Beziehungen, sie vermitteln Kontrolle, sie füllen die innere Leere. Das Wegwerfen fühlt sich dann an wie ein weiterer Verlust – emotional unerträglich.
Drittens verstärkt die kurzfristige Entlastung durch Vermeidung das Problem langfristig. Jedes Mal, wenn die Person sich entscheidet, nicht aufzuräumen oder niemanden hereinzulassen, fühlt sie sich kurzfristig erleichtert. Diese Erleichterung verstärkt das Verhalten, auch wenn die langfristigen Konsequenzen katastrophal sind. Das ist ein fundamentales Prinzip aus der Lerntheorie und erklärt, warum so viele problematische Verhaltensweisen so schwer zu ändern sind.
Prävention: Kann man das verhindern?
Die Antwort ist kompliziert. Da das Diogenes-Syndrom meist Ausdruck tieferliegender Störungen ist, müssten diese behandelt werden, bevor sich die Verwahrlosung entwickelt. Das bedeutet konkret: Depressionen frühzeitig erkennen und therapieren, beginnende Demenz diagnostizieren und begleiten, soziale Isolation im Alter aktiv verhindern, Trauerprozesse nach schweren Verlusten professionell unterstützen.
Gesellschaftlich würde eine bessere Vernetzung älterer Menschen helfen. Internationale Gesundheitsorganisationen betonen die Bedeutung von regelmäßigen Hausbesuchen durch Sozialarbeiter, niedrigschwelligen Beratungsangeboten und Nachbarschaftsinitiativen, die auf Veränderungen achten. In skandinavischen Ländern gibt es kommunale Modelle mit regelmäßiger aufsuchender Altenhilfe, für die positive Effekte auf Gesundheitsversorgung und soziale Teilhabe dokumentiert sind.
Auf individueller Ebene: Wenn du selbst merkst, dass du nach einem schweren Schicksalsschlag in destruktive Muster rutschst – zunehmende Unordnung, sozialer Rückzug, Vernachlässigung der Hygiene – such dir frühzeitig Hilfe. Eine Depression oder eine Traumareaktion in solchen Situationen ist völlig normal, aber sie sollte behandelt werden, bevor sie sich verfestigt und in etwas Schwereres mündet.
Was Betroffene nicht sagen können – aber fühlen
Würde man in die Köpfe von Menschen mit Diogenes-Syndrom schauen können, würde man wahrscheinlich eine Mischung finden aus: überwältigender Überforderung, tiefer Hoffnungslosigkeit, diffuser Angst, erdrückender Einsamkeit und einem verdrängten, aber präsenten Leid. Diese Menschen sind nicht „verrückt“ oder „böswillig“. Sie sind gefangen in einem psychologischen Mechanismus, den sie selbst oft nicht verstehen.
Die fehlende Einsicht ist nicht Sturheit, sondern Teil der Störung. Bei verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen ist mangelnde Krankheitseinsicht ein gut dokumentiertes Phänomen. Das Gehirn schützt sich vor einer Realität, die es nicht verarbeiten kann. Es ist eine Art psychischer Notfallmechanismus – dysfunktional, aber nachvollziehbar.
Klinische Interviews mit Betroffenen und Angehörigen zeigen, dass hinter der Abwehr oft Aussagen stehen wie: „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, „Es hat sowieso keinen Sinn“, „Wenn ich etwas verändere, verliere ich die letzte Kontrolle, die mir geblieben ist“, „Niemand versteht mich“. Das ist keine Bequemlichkeit. Das ist echter psychischer Schmerz.
Die harte Wahrheit: Es gibt keine einfachen Lösungen
Das Diogenes-Syndrom zeigt uns, wie fragil unsere Fähigkeit zur Selbstfürsorge ist. Ein paar falsche Lebensumstände – eine schwere Depression, eine beginnende Demenz, ein traumatischer Verlust, komplette soziale Isolation – und das ganze System kann zusammenbrechen. Die Verhaltensweisen sind keine Zeichen von Faulheit oder mangelnder Moral, sondern Symptome eines komplexen Zusammenspiels aus neurologischen Störungen, psychischen Erkrankungen und dysfunktionalen Bewältigungsstrategien.
Die fehlende Krankheitseinsicht macht die Behandlung unglaublich schwierig. Fachpublikationen betonen, dass Behandlung meist langwierig ist und ein Netzwerk aus Medizin, Psychotherapie, Sozialarbeit und praktischer Unterstützung erfordert. Schnelle Erfolge sind selten. Rückfälle sind häufig. Aber – und das ist wichtig – Verbesserung ist möglich, wenn alle Beteiligten geduldig bleiben und die richtige Hilfe zur richtigen Zeit angeboten wird.
Wenn du jemanden kennst, der diese Verhaltensweisen zeigt: Sei geduldig, aber beharrlich. Biete Hilfe an, ohne zu urteilen. Ziehe Fachleute hinzu – Hausarzt, Sozialpsychiatrischer Dienst, spezialisierte Beratungsstellen. Und vor allem: Gib nicht auf, auch wenn es lange dauert. Manchmal braucht es nur einen winzigen Riss in der Fassade, durch den Licht eindringen kann. Und manchmal reicht das, um einen Menschen langsam aus dem Dunkel herauszuholen.
Das Diogenes-Syndrom ist keine Randerscheinung, sondern eine ernsthafte Erkrankung, die Leben zerstört und Leben kostet. Aber mit Verständnis, den richtigen Ressourcen und einer Portion Geduld können wir den Betroffenen hel
Inhaltsverzeichnis
