Nährwerttabelle richtig lesen: Der Fehler, den 90 Prozent aller Deutschen beim Riegel-Kauf machen

Wer kennt das nicht: Man greift im Supermarkt zu einem Riegel, wirft einen Blick auf die Nährwerttabelle und freut sich über vermeintlich moderate Kalorienwerte. Doch die Ernüchterung folgt oft erst zu Hause, wenn man das Kleingedruckte genauer studiert. Die angegebenen Werte beziehen sich häufig nicht auf den gesamten Riegel, sondern auf eine Portion – und diese Portion entspricht manchmal nur einem Bruchteil dessen, was in der Verpackung steckt. Diese Praxis ist weit verbreiteter, als viele Verbraucher vermuten, und sie wirft grundlegende Fragen zur Transparenz in der Lebensmittelkennzeichnung auf.

Das Spiel mit den Portionsangaben: Ein systematisches Problem

Die Nährwertkennzeichnung auf Lebensmitteln soll Verbrauchern dabei helfen, informierte Entscheidungen zu treffen. Bei Riegeln aller Art – ob sie als Energie-, Protein-, Müsli- oder Fruchtriegel vermarktet werden – zeigt sich jedoch eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der angegebenen Portionsgröße und dem tatsächlichen Verzehrverhalten. Während die Verpackung optisch und haptisch als Einzelportion gestaltet ist, bezieht sich die Nährwerttabelle oft auf 50 oder 60 Prozent des Inhalts.

Diese Praxis ist rechtlich nicht verboten, sofern die Nährwertangaben pro 100 Gramm ebenfalls aufgeführt werden. Das Problem liegt jedoch in der psychologischen Wirkung: Die meisten Menschen konzentrieren sich auf die pro Portion angegebenen Zahlen, da diese handlicher und verständlicher erscheinen. Ein Riegel mit vermeintlich 120 Kilokalorien pro Portion wirkt deutlich attraktiver als einer mit 240 Kilokalorien – selbst wenn beide identisch sind und die Portionsangabe lediglich künstlich halbiert wurde.

Warum gerade bei gesunden Snacks Vorsicht geboten ist

Besonders tückisch wird es bei Produkten, die mit Gesundheitsversprechen beworben werden. Riegel mit Aufschriften wie „nur natürliche Zutaten“, „reich an Ballaststoffen“ oder „mit wertvollen Vitaminen“ suggerieren eine bewusste, figurfreundliche Wahl. Die Nährwertangaben pro Portion verstärken diesen Eindruck zusätzlich. Erst bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Der komplette Riegel enthält möglicherweise mehr Zucker als ein herkömmlicher Schokoriegel und liefert Kalorienwerte, die eher einer kleinen Mahlzeit entsprechen.

Ein weiterer kritischer Aspekt ist die Darstellung von Zucker. Während der Gesamtzuckergehalt ausgewiesen werden muss, verstecken sich in der Zutatenliste oft verschiedene Zuckerarten unter unterschiedlichen Bezeichnungen: Glukosesirup, Invertzuckersirup, Agavendicksaft, Dattelsirup oder Reissirup. Jede dieser Zutaten trägt zur Gesamtsüße bei, erscheint aber einzeln weiter hinten in der Liste. In Kombination mit reduzierten Portionsangaben entsteht so ein Bild, das deutlich vorteilhafter wirkt als die Realität.

Die rechtliche Grauzone und ihre Konsequenzen

Die europäische Lebensmittelinformationsverordnung schreibt vor, dass Nährwertangaben pro 100 Gramm oder 100 Milliliter erfolgen müssen. Diese Regelung, festgehalten in der EU-Verordnung Nummer 1169 aus dem Jahr 2011, gilt seit dem 13. Dezember 2016 verpflichtend für alle Lebensmittel in der Europäischen Union. Das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit bestätigt diese einheitliche Grundlage für die gesamte EU.

Zusätzlich zu den verpflichtenden 100-Gramm-Angaben dürfen Hersteller freiwillig Angaben pro Portion machen. Dabei müssen künftig der Brennwert sowie sechs Nährstoffe angegeben werden: die Mengen an Fett, gesättigten Fettsäuren, Kohlenhydraten, Zucker, Eiweiß und Salz, wie der Lebensmittelverband Deutschland präzisiert. Die Definition dieser Portion liegt jedoch weitgehend in ihrem Ermessen, da es keine verbindlichen Standards dafür gibt, was eine realistische Portion darstellt. Diese Regulierungslücke wird systematisch genutzt, um Produkte vorteilhafter erscheinen zu lassen.

Verbraucherschutzorganisationen kritisieren diese Praxis seit Jahren. Der Kern des Problems liegt darin, dass die Portionsangaben Verbraucher täuschen. Niemand isst einen Riegel zur Hälfte, wickelt ihn wieder ein und hebt den Rest für später auf. Die Verpackungseinheit ist psychologisch und praktisch als Einzelportion konzipiert – die Nährwertangaben suggerieren jedoch etwas anderes.

Wie Verbraucher die wahren Nährwerte erkennen können

Der wichtigste Schritt zu mehr Transparenz liegt im bewussten Lesen der Nährwerttabelle. Dabei sollten folgende Punkte beachtet werden:

  • Immer die 100-Gramm-Angaben als Vergleichsbasis nutzen: Diese sind standardisiert und ermöglichen einen direkten Vergleich verschiedener Produkte, unabhängig von kreativen Portionsangaben.
  • Das Gesamtgewicht der Verpackung prüfen: Steht auf der Verpackung beispielsweise 70 Gramm, während die Portion mit 35 Gramm angegeben ist, verdoppeln sich alle Nährwerte beim tatsächlichen Verzehr.
  • Auf den Zuckergehalt achten: Ein Riegel mit mehr als 20 Gramm Zucker pro 100 Gramm ist ein Süßwarenprodukt, unabhängig von der Vermarktung als gesunder Snack.
  • Die Zutatenliste genau studieren: Je weiter vorne eine Zutat steht, desto höher ist ihr Anteil im Produkt. Mehrere verschiedene Zuckerarten in der Liste summieren sich.

Die psychologische Dimension des Problems

Die Wirkung unrealistischer Portionsangaben geht über reine Zahlen hinaus. Sie beeinflussen das Ernährungsverhalten auf subtile Weise. Wer glaubt, mit einem Riegel nur 150 Kilokalorien zu sich genommen zu haben, trifft möglicherweise bei der nächsten Mahlzeit andere Entscheidungen, als wenn die tatsächlichen 300 Kilokalorien bekannt wären. Diese kumulative Fehleinschätzung kann über Wochen und Monate erhebliche Auswirkungen auf die Energiebilanz haben.

Zudem entsteht ein falsches Verständnis davon, was eine angemessene Snackgröße darstellt. Wenn ein als Portion deklarierter halber Riegel zur Norm wird, verschieben sich die Maßstäbe für Portionsgrößen insgesamt. Dies ist besonders problematisch bei Kindern und Jugendlichen, die noch kein gefestigtes Verständnis für Ernährung entwickelt haben.

Was sich ändern müsste: Forderungen für mehr Transparenz

Verschiedene Verbraucherschutzorganisationen und Ernährungsexperten fordern seit Langem klarere Regelungen. Eine naheliegende Lösung wäre die Verpflichtung, bei einzeln verpackten Produkten die Nährwerte stets für die gesamte Verpackungseinheit anzugeben. Wenn ein Produkt als ein Stück verkauft wird, sollten die Nährwertangaben auch dieses eine Stück widerspiegeln – nicht eine theoretische Teilportion.

Eine weitere Möglichkeit wäre die Einführung standardisierter Portionsgrößen für bestimmte Produktkategorien. Diese würden als Richtwerte dienen und müssten am tatsächlichen Verzehrverhalten orientiert sein, nicht an Marketingüberlegungen. Solche verbindlicheren Standards würden die Vergleichbarkeit zwischen Produkten erheblich verbessern und Verbrauchern realistische Orientierung bieten.

Praktische Tipps für den bewussten Einkauf

Bis sich die Gesetzgebung ändert, bleibt Verbrauchern nur die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden. Eine hilfreiche Strategie ist die Verwendung von Apps oder Online-Rechnern, die Nährwerte auf Basis des Gesamtprodukts berechnen. Viele dieser Tools ermöglichen es, Barcodes zu scannen und sofort vollständige Informationen zu erhalten.

Beim Einkauf lohnt sich außerdem der Vergleich verschiedener Produkte derselben Kategorie anhand der 100-Gramm-Werte. Oft zeigt sich dabei, dass vermeintlich gesündere Premium-Riegel kaum besser abschneiden als konventionelle Varianten – sie werden lediglich geschickter vermarktet. Ein kritischer Blick auf das Verhältnis zwischen Preis und tatsächlichen Nährwerten kann ebenfalls aufschlussreich sein.

Die Problematik irreführender Portionsgrößen bei Riegeln ist exemplarisch für größere Herausforderungen in der Lebensmittelkennzeichnung. Sie zeigt, wie rechtlich zulässige Praktiken die Transparenz untergraben und es Verbrauchern erschweren, fundierte Entscheidungen zu treffen. Während die individuelle Aufmerksamkeit beim Einkauf wichtig bleibt, braucht es langfristig verbindlichere Regelungen, die das tatsächliche Verzehrverhalten berücksichtigen und nicht die kreativen Interpretationen der Hersteller. Nur so kann das Vertrauen in die Nährwertkennzeichnung wiederhergestellt und eine echte Grundlage für bewusste Ernährungsentscheidungen geschaffen werden.

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